Al-Azhar-Erklärung für Staatsbürgerschaft (muwâtana) und gemeinsames Zusammenleben

(Übersetzt vom Al-Azhar Zentrum für Übersetzung und Dolmetschen)

  • | Sunday, 5 March, 2017
Al-Azhar-Erklärung für Staatsbürgerschaft (muwâtana) und gemeinsames Zusammenleben

Aus Erfüllung erneuter Bedürfnisse, die unsere arabischen Gesellschaften zu realisieren versuchen, aus Begegnung der Herausforderungen, mit denen die Religion, die Gesellschaft und die Nationalstaaten konfrontiert sind, aus Anerkennung der enormen Gefahren, die dem einzigartigen Versuch des religiösen Pluralismus in unseren Gemeinschaften und unseren kulturellen Bereich im Weg stehen, aus Fortsetzung der Bemühungen und der einzelnen und gemeinsamen Initiativen, die Al-Azhar und die religiösen und anderen zivilen Institutionen in der arabischen Welt in den vergangenen Jahren durchgeführt haben, basierend auf dem islamisch-christlichen Willen, der auf das gemeinsame Zusammenleben, die Ablehnung des Extremismus, die Verurteilung der Gewalt und der Verbrechen, die im Namen der Religion verübt werden, wobei die Religion daran unschuldig ist, beharrt, wie das in der „Erklärung der Al-Azhar-Konferenz zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus“ im Jahre 2014 und der darauffolgenden Konferenzen und gemeinsamen Foren gekommen ist, und ausgehend von all diesem haben sich Al-Azhar und der Weisenrat der Muslime entschieden, eine Konferenz zum Thema „Freiheit, Staatsbürgerschaft, Vielfalt und Integration“ abzuhalten. Diese Konferenz wurde von mehr als zweihundert Persönlichkeiten aus sechzig Staaten sowie von muslimischen und christlichen religiösen, zivilen, kulturellen und politischen Eliten in der arabischen und der ganzen Welt besucht. An dieser Konferenz haben sich viele Politiker, Intellektuelle und Vertreter der Massenmedien in Ägypten beteiligt.

Im Laufe von zwei Tagen, 28.02-01.3.2017, von Vorträgen und Diskussionen über die Fragen der Staatsbürgerschaft, der Freiheit, der Vielfalt, der Erfahrungen, der Herausforderungen, der Beiträge und der Initiativen stimmten die Teilnehmer darin überein, „Al-Azhar-Erklärung“ mit den folgenden Punkten zu erlassen:

Erstens: Der Begriff Staatsbürgerschaft im Islam ist ein inhärenter Begriff, dessen erstes Licht der Verfassung von Medina und der ihr nachfolgenden Briefen und Abkommen des Propheten Muḥammad (Allah segne ihn und schenke ihm Wohlergehen!), in denen er die Beziehung der Muslime mit Nicht-Muslimen bestimmt, entspringt. Al-Azhar-Erklärung bestätigt, dass die Staatsbürgerschaft keine erfundene Lösung ist. Vielmehr ist sie ein Abruf für die erste islamische Praxis des Regimes, das der Prophet (Allah segne ihn und schenke ihm Wohlergehen!) in der ersten von ihm gegründeten islamischen Gesellschaft im Staat von Medina angewandt hat.

Diese Praxis enthielt damals keinerlei Maß von Diskriminierung oder Ausschluss irgendeiner Klasse in der Gesellschaft. Vielmehr enthielt sie Politiken, die auf dem religiösen, ethnischen und sozialen Pluralismus beruhten. Dabei handelt es sich um einen Pluralismus, der nur im Rahmen der vollständigen Staatsbürgerschaft und der Gleichberechtigung funktioniert, die in der Verfassung von Medina zu sehen sind: Die sozialen Gruppen, die verschiedene Religionen und Rassen haben, bilden eine einige Gemeinschaft, die sich von den übrigen Menschen unterscheidet, und Muslimen und Nicht-Muslimen werden die gleichen Rechte und Pflichten zuteil.

Auf dieser Grundlage besitzen die arabischen und islamischen Gesellschaften ein edles Erbe im Hinblick auf das Praktizieren des Zusammenlebens in einer einzigen Gesellschaft, die auf Vielfalt, Pluralismus und gegenseitiger Anerkennung beruht.

Da diese dauerhaften Religionsfestwerten internen und externen Herausforderungen ausgesetzt sind und noch aussetzen, verständigen sichdie Al-Azhar und der Weisenrat der Muslime zusammen mit den Christen des Osten wieder über die Gleichstellung von Muslimen und Christen in Bezug auf Heimat, Rechte und Pflichten als eine einzige Gemeinschaft, wobei die Muslime ihren eigenen Glauben und die Christen ihren eigenen haben. Das hat der Prophet (Allah segne ihn und schenke ihm Wohlergehen!) in der Verfassung von Medina bestimmt.

Demensprechend beteiligen sich alle an den nationalen Verantwortungen.

Zweitens: Die Annahme der Konzepte der Staatsbürgerschaft und der Gleichstellung erfordert notwendigerweise die Verurteilung der Praktiken, die dem Prinzip der Staatsbürgerschaft entgegenstehen. Dabei geht es um die Praktiken, die die islamische Scharia nicht anerkennt, auf der Grundlagen der Unterscheidung von Muslimen und Nicht-Muslimen gründen und aus denen die Verachtung, die Ausgrenzung und die Doppelstandard-Strategie resultieren. Dazu kommen noch die Verfolgung, Verengung, Vertreibung, Tötung und andere Verhaltensweisen, die der Islam und alle Religionen und Gewohnheiten zurückweisen.

Die ersten Faktoren der Konsolidierung und der Unterstützung des gemeinsamen Willens liegen in einem Verfassungsnationalstaat, der auf Prinzipien der Staatsbürgerschaft, der Gleichberechtigung und der Rechtsstaatlichkeit beruht. Auf Grund dessen führt der Ausschluss des Konzeptes der Staatsbürgerschaft als ein Vertrag zwischen den Bürgern, Gesellschaften und Staaten zum Scheitern des Staates, zum Scheitern der religiösen Institutionen und der kulturellen und politischen Elite, zur Niederschlagung der Entwicklung und des Fortschritts und zum Ermöglichen derjenigen, die auf die Unstabilität des Staates lauern, mit dem Staat und dessen Ressourcen zu spielen.

Darüber hinaus fördert das Ignorieren des Konzeptes der Staatsbürgerschaft und deren Anforderungen,von Minderheiten und deren Rechten zu sprechen.

Aus diesem Punkt hofft die Erklärung, dass die Intellektuellen und die Denker auf die Gefährlichkeit bedacht zu sein, den Begriff der Minderheiten zu benutzen, der die Bedeutung von Diskriminierung und Trennung unter dem Vorwand der Betonung der Rechte mit sich bringt. In den letzten Jahren haben wir die häufige Verwendung des Begriffes „Minderheiten“ gesehen, nachdem wir geglaubt hatten, dass er mit dem Rückgang des Kolonialismus nicht mehr verwandt wurde. Jetzt verwendet man diesen Begriff wieder, um zwischen Muslimen und Christen, sogar zwischen den Muslimen selbst, zu unterscheiden. Dies führt also dazu, Loyalitäten zu verteilen und externen Projekten zu unterwerfen.

Drittens: Angesichts der in den letzten Jahrzehnten verbreiteten Erscheinungen von Extremismus, Gewalt und Terrorismus, die deren Täter im Namen der Religion verüben, und angesichts des Leidens der Anhänger anderer Religionen und Kulturen in unseren Gesellschaften an Druck, Einschüchterung, Vertreibung, Verfolgung und Entführung erklären die muslimische und christlichen Teilnehmer an der Al-Azhar-Konferenz, dass alle Religionen an allen Formen des Terrorismus unschuldig sind. Vielmehr verurteilen sie den Terrorismus und missbilligen ihn in starker Weise.

Die Teilnehmer an der Konferenz verlangen von denjenigen, die den Islam und andere Religionen mit dem Terrorismus verbinden, mit dem Verdacht aufzuhören, der sich bei vielen wegen dieser Fehler und der beabsichtigten und unbeabsichtigten Behauptungen verankert hat. 

Die Teilnehmer meinen, dass das Verfahren gegen den Islam wegen der kriminellen Verhaltensweisen einiger Angehöriger des Islam die Tür öffnet, allen Religionen der Eigenschaft des Terrorismus zu geben. Dies rechtfertigt den Übertreiber unter den Modernisten ihre Meinung, von der Religion unter dem Vorwand der Stabilität der Gesellschaften loszuwerden.

Viertens:

Der Schutz der Bürger in Bezug auf ihr Leben, ihre Freiheiten, ihr Eigentümer und ihre anderen übrigen staatsbürgerlichen Rechte sowie ihre Würde und ihre Menschlichkeit wurde ja die erste Aufgabe der nationalen Staaten, von der sie nicht befreit werden darf, um das Leben der Bürger und deren Rechte zu wahren und zu schützen. Der Staat darf auf gar keinen Fall bei der Erfüllung dieser Aufgabe nicht gehindert werden.

Die jüngste und ferne Geschichte  ist von den klaren Beispielen voll, die bestätigen, dass die Schwäche des Staates zur Verletzung der Rechte seiner Bürger führt, und dass seine Macht  in der Macht seiner Bürger besteht. Alle kulturellen und nationalen Eliten und die Betroffenen der öffentlichen Angelegenheit in den ganzen arabischen Ländern tragen zusammen mit dem Staat große Verantwortungen bei der Bekämpfung aller Phänomene der unkontrollierten Gewalt, die auf religiösen, rassischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Grund zurückgehen.

Heute sind wir alle auf Grundlage von der einzigen Zugehörigkeit und dem einzigen Schicksal zur Solidarität und Zusammenarbeit aufgefordert, um unsere menschliche, gesellschaftliche, religiöse und politische Existenz zu schützen. Es liegt darin, dass wir gemeinsame Beschwerden sowie gemeinsame Interesse haben. Dies erfordert ein gemeinsames Handeln, dessen Notwendigkeit wir alle anerkennen.

Darüber hinaus muss dieses Gefühl in die Tat in verschiedenen Bereichen des religiösen, gesellschaftlichen, kulturellen und nationalen Lebens umgesetzt werden.

Fünftens:

Wir alle – Institutionen und Einzelpersonen- haben in den letzten Jahren viel gearbeitet, um zu überprüfen bzw. Selbstkritik zu machen, zu berichtigen, zu qualifizieren bzw. auszubilden und zu etablieren.

Wir –Muslime und Christen- brauchen noch weitere Revisionen zwecks der Erneuerung der Entwicklung in unserer Kultur und in Praktiken Institutionen.

Zu den obenerwähnten Überprüfungsmaßnahmen gehört die Festigung der Kommunikation bzw. des Verständnis der religiösen Institutionen in der arabischen Welt sowie in der ganzen Welt. Wir haben Beziehungen mit der Hauptstadt vom Vatikan und der Diözese von Canterbury sowie dem Weltrat der Kirchen (World Council ofChurches) und andere aufgenommen.

Wie freuen uns ja darauf,  Beziehungen der gegenseitigen Zusammenarbeit zwischen allen übrigen religiösen, kulturellen und Medieninstitutionen in der arabischen Welt weiter aufzunehmen, um auf den Gebieten der beratenden Orientierung und der religiösen moralischen Erziehung und der Bildung bzw. Erziehung der Staatsbürgerschaft und der Entwicklung der Beziehungen des Verständnis bzw. der Kommunikation mit den arabischen und internationalen religiösen Institutionen für die Verankerung der islamisch-christlichen Dialogs sowie für den Dialog der Kulturen zusammen zu arbeiten.

Sechsten:

Das Ziel  der Al-Azhar und des Weisenrates der Muslime, die sie sich für diese Konferenz aussetzen, eine erneuerte Teilhaberschaft oder sozusagen ein Abkommen unter allen arabischen Bürgern, Muslimen und Christen und allen anderen Religionsanhängern, zu gründen. Dieses Abkommen muss auf alle Seiten zum Verständnis und der Anerkennung führen sowie auf der Staatsbürgerschaft und der Freiheit  basiert. So ein Abkommen gilt nicht mehr als eine gute Option, sondern auch als eine Lebensnotwendigkeit sowie als eine Entwicklung unserer Gesellschaften, Länder, Menschlichkeit und unserer Generationen.

Für die Vollteilhaberschaft und das erwähnte Abkommen hat der Gesandte Allahs – Allah segne ihn und schenke ihm Heil – ein Beispiel durch die Gruppe Passagiere eines Schiffs mit zwei Etagen geführt: „Es geschah dann, dass diejenigen, die sich unten aufhielten, immer an den Leuten vorbeigehen mussten, die sich oben befanden, um Trinkwasser zu holen. Da sagten diese: »Was haltet ihr davon, wenn wir ein Loch in unser Abteil bohrten und die Leute über uns nicht mehr belästigen?« Wenn die Leute (oben) dies zulassen würden, was die anderen zu tun beabsichtigen, so würden alle zusammen zugrunde gehen; und wenn sie sie mit der Tatkraft davon abhalten würden, so retteten sie sich selbst und alle anderen mit.“

 

Uns als Leute eines einzigen Schiffs begegnen wir gemeinsame Gefahren, die uns in unserem Leben und unseren allen Gesellschaften, Ländern und Religionen drohen. Mit dem gemeinsamen Wille, mit der gemeinsamen Zugehörigkeit und mit dem gemeinsamen Schicksal wollen wir durch die harte Arbeit zur Errettung unserer Gemeinschaften und unserer Länder sowie zur Berechtigung unserer Beziehungen mit der Welt  zusammen beitragen, so dass wir unseren Söhnen und Töchtern Gelegenheiten bzw. Möglichkeiten in einer vielversprechenden Zukunft  und ein besseres Leben schaffen.

Die anwesenden Teilnehmer – Muslime und Christen – erneuern ihre Brüderlichkeit und ihre Ablehnung jeglicher Versuche, sie voneinander zu trennen oder zu zeigen, dass die Christen eine verfolgte Zielgruppe in ihren eignen Heimatländern sind.

Darüber hinaus betonen sie, dass der Terrorismus mit all seinen alten oder neuen Versuchen, unsere gemeinsame Erfahrung des Zusammenlebens zu vernichten, scheitern wird. Beeinträchtigen kann er niemals unsere Entschlossenheit, dieses Zusammenleben fortzusetzen und es weiter zu entwickeln und der Bedeutung des Konzepts der Staatsbürgerschaft geistlich und praktisch bewusst zu sein.

 

Unsere Absicht ist das Wohlgefallen Allahs – Gepriesen sei Er.

Er ist auch unsere Genüge, und wie trefflich ist der Sachwalter!

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