3. Koranische Einstellung zum Umgang mit den Nazarenern
Die Aussagen des Koran über die Anhänger Jesu unterscheidet sich gänzlich von der Art und Weise seiner Auseinandersetzung mit ihren religiösen Lehren. Die daran ausgeübte harte Kritik verschwindet vollständig, wenn es sich um das Zusammenleben der Muslime mit den Nazarenern handelt. Nur ein Vers unterscheidet zwischen den beiden Gemeinschaften, den Juden und den Nazarenern, in Hinblick auf ihre jeweilige Haltung zu der muslimischen Gesellschaft:
„Du wirst sicher finden, dass diejenigen Menschen, die sich den Gläubigen gegenüber am meisten feindlich zeigen, die Juden und die Heiden sind. Und du wirst sicher finden, dass diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind, welche sagen: ‚Wir sind Christen (nasaaraa)‘. Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester (qissiesien) und Mönche gibt, und weil sie nicht hochmütig sind.“ (Henning 2007, S. 112, Sure 5,82).
Im Gegensatz zu den Nazarenern, denen der Koran eine freundliche Gesinnung gegenüber den Muslimen bescheinigt, wird auf Seite der Juden eine heftige Gegnerschaft erkannt. Während die Juden von David und Jesus verflucht wurden, einander die verwerflichen Handlungen nicht verboten, und den Ungläubigen Unterstützung bieten (Sure 5,78-80), stehen die Nazarener den Gläubigen am freundlichsten gegenüber, weinen beim Hören der Offenbarung, suchen den Glauben an Gott, und werden für ihr Bekenntnis mit Paradiesgärten belohnt (Sure 5,82-85).
An-Naysabūrī berichtet nach Ibn ʿAbbās, dass der Anlass der Offenbarung des fraglichen Verses die gute Behandlung der muslimischen Auswanderer seitens Negus’, des Königs Abessiniens, war (An-Naysabūrī 1968, S. 136; Ibn Isḥāq 1999, S. 65-70). Neben dieser Überlieferung berichtet aṭ-Ṭabarī noch, dass der Vers auf eine andere Gruppe der Christen verweisen kann als die von Abessinien, und hält die für wahrscheinlicher (Vgl. aṭ-Ṭabarī 2000, Bd. X. S. 501). Eigentlich fand um die Zeit der Auswanderung zu Negus noch keine Auseinandersetzung mit den Juden statt, die damals in Medina siedelten. Das bedeutet, dass es keinen Anlass dafür geben soll, zwischen den Christen und den Juden zu vergleichen, falls der Vers die Haltung der Christen von Abessinien darstellt. Ich bin der Annahme, dass der Vers entweder später in Medina offenbart wurde, und zwar mit dem Ziel, die Muslime an die Geschichte in Abessinien zu erinnern, oder – wie at-Ṭabarī meint – über eine andere Gruppe der Nazarener spricht. Bemerkenswert ist, dass das Lob der Anhänger Jesu auf einen religiösen Grund zurückgeführt wird: Unter den Nazarenern gäbe es Priester und Mönche, die nicht hochmütig seien. Hier ist der Unterschied zwischen dem Umgang mit den Dogmen der Andersgläubigen und dem mit diesen selbst als Menschen deutlich: „Wenn es ]…[ nicht ausschließlich um rein religiöse Fragen geht, sondern ]…[ um Fragen, die den gesellschaftlichen Bereich und das allgemein politische Leben betreffen, dann treten andere Vorschriften in Kraft“ (Khoury 1995, S. 149). Sogar die Existenz der Kleriker gilt als Grund für die Ansicht des Verses über die Christen im Allgemeinen (vgl. Sure 57,27: „Und in die Herzen derer, die ihm (Jesus Christus) folgten, legten Wir Güte und Barmherzigkeit“; Henning 2007, S. 436, Sure 57,27). Rechtlich gesehen dürfen die Muslime dem Koran zufolge, die Speisen der ahlu l-kitāb zu essen und die ehrbaren Frauen von denen zu heiraten: „Heute sind euch die guten Dinge (zu essen) erlaubt. Und was diejenigen essen, die (vor euch) die Schrift erhalten haben, ist für euch erlaubt, und (ebenso) was ihr esst, für sie. Und (zum Heiraten sind euch erlaubt) die ehrbaren (muhsanaat) gläubigen Frauen und die ehrbaren Frauen (aus der Gemeinschaft) derer, die vor euch die Schrift erhalten haben, wenn ihr ihnen ihren Lohn gebt, (wobei ihr euch) als ehrbare Ehemänner (zu betragen habt), nicht als solche, die Unzucht treiben und sich Liebschaften halten“ (Paret 2007, S. 79, Sure 5,5) – ein rechtliches Urteil, mit dem die Gelehrten des islamischen Rechts seit dem 8. Jahrhundert ausführlich beschäftigt.
4. Schlusswort
Die Auseinandersetzung des Koran mit Jesu und einer Botschaft ist durch drei verschiedene Kontexte zu verstehen. Der eine Kontext beschäftigt sich mit dem Bild, das der Muslim von der Person Jesu haben muss. Es handelt sich um einen Propheten, der im Koran hochschätzt wird, dessen Geburtsgeschichte und Wunder erzählt werden, und der von Gott das Evangelium als Offenbarung erhielt. Im Koran gilt dieses Evangelium nur als von Gott durch Jesus an die Menschen übermitteltes Buch. Das heißt, Jesus wird nicht als Gottes Sohn, sondern wie seine Vorgänger als Prophet bezeichnet. Das Verhältnis Gottes zu den Menschen soll nach dem koranischen Urteil trotz der Besonderheit der Geburt Jesu nicht über den Unterschied von Schöpfer und Geschöpf hinausgehen. In einem anderen Kontext richtet der Koran seine Kritik an bestimmte Glaubenssätze der Nachfolger Jesu, der Nazarener, und hält sie im Grunde für falsch. Die Sohnschaft und die Dreieinigkeit stehen nach der koranischen Ansicht in krassem Widerspruch mit dem Prinzip des Monotheismus. Die Kreuzigung Jesu soll nicht geschehen sein, denn sie kann nicht mit der Mächtigkeit Gottes übereinstimmen. Der Koran bezieht sich bei seiner Auseinandersetzung mit diesen Dogmen weder auf genaue Stellen im Neuen Testament noch auf eine bestimmte christliche Konfession, die die jeweilige Lehre vertritt. Dadurch distanziert sich der Koran von anderen Glaubenslehren und versucht, ein eigenständiges Bekenntnis zu formulieren und das eigene Verständnis von der Beziehung zwischen Menschen und Gott darzustellen. Nach einigen modernen islamischen Denkern ist der Muslim vor allem in Bezug auf die Lehre der Sohnschaft und der Dreifaltigkeit nicht aufgefordert nachzuforschen, ob oder inwieweit die in den Suren vorkommende Kritik auf die heutigen Christen zutrifft (Al-ʿAwwā 2007, S. 42: „hāḏā baḥṯun lā ṯamarata lahū“ (Das ist keine fruchtbare Nachforschung). Im Hinblick auf die Nazarenerische Gesellschaft wird sie im Koran abgesehen von der Kritik an ihren Dogmen positiv dargestellt. Hier geht es um den dritten Kontext, in dem dem Muslim geboten wird mit dieser Gesellschaft auf die beste Art uns Weise zu verkehren. Das Zusammenleben mit ihr regelt der Koran durch gesetzliche Bestimmungen, indem er den Muslimen erlaubt, die Speisen der ahlu l-kitāb zu essen und die Frauen unter ihnen zu heiraten. Die Tatsache, dass er eine Familie aus einem Muslim und einer Christin akzeptiert, wird in der islamischen Theologie damit kommentiert, dass der Ehemann seine Frau am Besuch des Gottesdienstes in der Kirche nicht hindern darf. Vielmehr verbindet aš-Šāfiʿī diese Bestimmung mit dem Prinzip der Religionsfreiheit, indem er meint, dem Mann stände es nicht zu, mit seiner Frau über den Islam zu reden, denn dies könne mit der Zeit zum Zwang führen, was der Koran verbietet (Vgl. Huwaidī 1999, S. 90).
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Mohammed Abdel Fadeel Abdel Rahem
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