2. Welche Dogmen werden im Koran kritisiert?
Im Folgenden geht die Untersuchung auf bestimmte Lehren bzw. Glaubenssätze der Nazarener ein, wie sie im Koran dargestellt und kritisiert werden. Gegen die Trinitätslehre, die Kreuzigung Jesu und den Glauben an ihn als Sohn Gottes wird im Koran häufig harte Kritik geübt, da sie mehr oder weniger dem islamischen Grundprinzip des Eingottglaubens widersprechen. Der Koran behandelt diese Glaubenssätze im Zusammenhang mit der Geschichte Jesu an vielen Stellen, die im Folgenden exegetisch behandelt werden, indem die koranische Stellungnahme dargelegt wird, ohne weder auf die christlichen theologischen Einzelheiten noch auf die islamische Apologetik eingegangen.
2.1. Die Sohnschaft (Sure 5,17.72)
Im Koran wird, wie erwähnt, die Verbindung Jesu mit Gott nicht bezweifelt; er wird als Prophet Gottes angesehen und durch den Titel „Gesandter“ in eine Reihe mit Mose und Muḥammad gestellt. Der Koran bezeugt darüber hinaus die Messianität Jesu und übernimmt den Messias-Titel.
Exkursion 3: Jesus wird im Koran elf Mal al-masīḥ (der Messias) genannt. Damit ist „der Gesalbte“, „von der Sünde Gereinigten“ oder „Gesegneten“ gemeint (vgl. aṭ-Ṭabarī 2000, Bd. IX. S. 417). Mehr zu den koranischen Titeln Jesu Christi, s. Khoury 2001, S. 76.
Doch werden zwei verschiedene Lehren zur Person Jesu kritisiert, einerseits dass er Gott sei (Sure 5,17; 5,72; 5,116) und andererseits dass er, wie es in der christlichen Lehrentwicklung dogmatisch bereits fixiert wurde, Gottes Sohn ist (Sure 2,116; 10,68; 18,5; 19,88-93; 21,26). Dies hat seine Ursache darin, dass der Koran zwei verschiedenen theologischen Formen der Christologie begegnet, wobei er an anderer Stelle darauf hinweist, wie sehr christliche „Parteien“ in diesem Punkte untereinander zerstritten sind (Sure 19,37).
Gemäß Sure 5,17 sind diejenigen ungläubig, „die sagen: ‚Gott ist Christus, der Sohn Marias‘“ (Vgl. Sure 5,72; 5,116). Diese Auffassung wird in den Koranexegesen am meisten den Jakobiten zugeschrieben (Al-Qurṭubī 1985, Bd. VI. S. 249).
Exkursion 4: Jakobiten sind Anhänger der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien und nach Jacob Baradai (gest. 578), dem Begründer der Kirche, benannt. "Heute lehnt die Kirche den Namen J. ab und nennt sich (im Sinne eigener Rechtgläubigkeit) syrisch-orthodox." (Spuler1959, S. 523)
Al-Alūsī berichtet hierzu, einige muslimischen Theologen seien der Meinung, „lamyuṣarriḥ bi-hāḏā l-qawl aḥadun min an-naṣārā“ (keine christliche Gruppe sagte das ausdrücklich), und zwar dass Gott Jesus sei. Allerdings soll der Vers – so al-Alūsī– darauf verweisen, dass dies im Endeffekt ein zwangsläufiges Ergebnis der christlichen Lehre von Inkarnation, d.h. der Fleischwerdung Gottes in Jesus von Nazareth ist (Al-Alūsī 1994., Bd. VI. 270). Ar-Rāzī stellt des Weiteren fest, dass die im Vers erklärte Meinung nicht explizit von den Christen behauptet wird. Jedoch „wa-in kānū lā yuṣarriḥūna bi-hāḏā l-qawl illā anna ḥāṣil maḏhabihim laysa illā ḏālik“ (wenn sie dies ausdrücklich nicht äußern, mündet ihre Auffassung ]der Inkarnation [definitiv darin; ar-Rāzī, o. J., Bd. XI. 189). Der Koran lehnt daher den beiden Exegeten zufolge die Vereinbarung des Göttlichen und Menschlichen in Jesus ab, sieht darin eine Behauptung, dass Gott Jesus sei und hält dies letztendlich für Unglauben gegenüber Gott. Das Urteil zum Unglauben wird am Ende des Verses noch mit der Frage kommentiert: „Wer könnte Gott daran hindern, wenn er den Messias, den Sohn der Maria, und seine Mutter und wen auch immer auf Erden vernichten wollte?“ (Henning 2007, S. 104, Sure 5,17b). Mit dieser Ergänzung stellt der Vers Jesus Christus und jeden anderen Menschen insofern gleich, dass sie alle Geschöpfe Gottes sind, die über keine Macht gegenüber Gottes Willen verfügen oder sich gegen den Tod verteidigen können; Darüber hinaus impliziert diese Frage am Ende des Verses eine Zusammenfassung der koranischen Christologie und zwar, dass Jesus der Messias und der Sohn Marias ist.
Ebenso wird die Auffassung, Jesus sei der Sohn Gottes vom Koran kritisiert. Zu dieser Frage werden von den muslimischen Gelehrten zwei Arten von Versen behandelt: Eindeutige Verse, in denen explizit von den „Nazarener“ und dem „Sohn Gottes“ die Rede ist, und zweideutige Verse, die nicht speziell über die Nazarener, sondern über „diejenigen, die … behaupten“ erzählen. Für die erste Kategorie ist nur eine koranische Stelle zu finden, und zwar:
„Und die Juden sagen: ‚Esra ist Allahs Sohn.‘ Und die Christen sagen: ‚Der Messias ist Allahs Sohn.‘ So spricht ihr Mund. Sie führen eine ähnliche Rede wie die Ungläubigen vor ihnen. Allahs Fluch über sie! Wie sind sie doch völlig ohne Verstand!“ (Henning 2007, S. 163, Sure 9,30).
Der Vers informiert über den Glauben der Juden und Christen (die Nazarener) an die Gottessohnschaft, verflucht sie wegen dieser Behauptung und wirft ihnen am Ende den Unverstand vor. Auf der Seite der Juden wird die Aussage, Esra sei Sohn Gottes, schwer zu beweisen, was auch die Meinungsverschiedenheit der Exegeten verdeutlicht.
Exkursion 5: Esra war eine anerkannte, aus priesterlichem Geschlecht stammende Persönlichkeit. Er ordnet Priestertum und Tempeldienst, organisiert die Rückkehr weiterer Juden aus dem Exil und trägt auf Verlangen des Volkes das Gesetz vor (vgl. Galling Bd. 2 (1598) S. 693). Es werden verschiedene Überlieferungen für die Erläuterung dieses Versesteils berichtet. Nach Ibn ʿAbbās wurde berichtet, dass eine Gruppe von den Juden, zu der Šaʿs b. Qays und Mālik b. aṣ-Ṣayf gehörten, dies im Gespräch mit dem Propheten Muḥammad sagten (Aṭ-Ṭabarī 2000, Bd. XIV. S. 202). Riḍā schließt in seinem Kommentar nicht aus, dass es sich um eine Aussage frührer Juden handelt, die Esra damit nur hochschätzen wollten, genau wie Israel, David und andere Propheten im Alten Testament als Söhne Gottes bezeichnet werden (Vgl. Riḍā 1999, Bd. X. 286f.)
Was die Aussage der Nazarener, Jesus sei Gottes Sohn, betrifft, gilt sie als bereits verankertes christliches Dogma und kommt in vielen Stellen des Neuen Testaments zum Ausdruck. Al-Alūsī führt für dieses Dogma dreierlei Gründe an: Die Christen glauben an die Sohnschaft Jesu, entweder weil es unmöglich wäre, dass ein Mensch ohne einen Vater geboren zu werden, oder weil die Wunder Jesu nicht von einer normalen Person gewirkt werden können, oder weil die Christen dies ausdrücklich im Evangelium haben, aber „aḫṭaʾū fī fahm al-murād minhu“ (sie haben falsch verstanden, was damit gemeint ist). Al-Alūsī hält den letzt erwähnten Grund für wahrscheinlich (Vgl. Al-Alūsī 1994, Bd. X. S. 274). Die späteren Gelehrten vertreten die Meinung, dass die Christen die neutestamentlichen Stellen, die von der Sohnschaft Jesu erzählen (vgl. Mt 4,3.6; 16,13-16; Mk 16,33; Joh 3,35-36; 5,19-21; 5,43), falsch interpretiert haben. Die Gelehrten stellen diesen Versen solche anderen biblischen Stellen gegenüber, in denen die Propheten oder auch die Jünger Jesu selbst als Söhne Gottes bezeichnet werden (vgl. 2. Mos 4,22; Psl 89,27; Jer 31,9; Mt 5,44;), und kommen zum Schluss, dass mit der Sohnschaft hier „riʿāyatu l-Lāh wa-ʿināyatuh wa-ʿaṭfuh wa-raḥmatuh“ (die Unterstützung, Fürsorge, Sympathie und Barmherzigkeit Gottes) gemeint (Al-Ḫaṭīb 1965, S. 220; vgl. Riḍā 1999, Bd. X. S. 295; Šalabī 1998, S. 152). Nach Riḍā ist nicht zu leugnen, dass der Anteil Jesu an diese Hochschätzung im Vergleich zu David, Jakob und Salamon zwar größer ist, jedoch soll dies nicht dazu führen, Jesus als leibliches bzw. Adoptivsohn Gottes zu betrachten (Riḍā 1999, X. S. 295).
In den zweideutigen koranischen Stellen wird indessen nicht mit dem arabischen Wort ibn (Sohn), sondern mit walad (Kind) ausgedrückt, das im Arabischen sowohl Sohn als auch Tochter bedeuten kann (Ibn Manẓūr 1980., VI. S. 4914; vgl. ar-Rāzī 1995, Bd. I. S, 740. Im Gegensatz zu Henning übersetzen Khoury und Paret das Wort „walad“ mit „Kind“). Aufgrund dessen, dass die Heiden zur Zeit Muḥammads die Engel als Töchter Gottes bezeichneten (vgl. Sure 17,40; 37,150; 43,19), sind die Koranexegeten bei der Auslegung der fraglichen Stellen, in denen von „denjenigen, die sagen…“ bzw. „Kind“ die Rede ist, darin uneinig, ob der Vers sich mit den Christen bzw. mit den Heiden auseinandersetzt. Als Beispiel werden hier die Suren 2,116 und 10,68, die im jeweiligen ersten Teil identisch sind, geführt:
„Und sie (d. h. die Christen?) sagen: ‚Allah hat sich ein Kind zugelegt.‘ Gepriesen sei er! (Darüber ist er erhaben.) Nein! Ihm gehört (ohnehin alles), was im Himmel und auf Erden ist. Alle (Geschöpfe) sind ihm demütig ergeben.“ (Paret 2007, S. 22, Sure 2,116).
„Sie sagen: ‚Allah hat sich ein Kind zugelegt.‘ Gepriesen sei er! Er ist der, der reich ist (und so etwas nicht nötig hat). Ihm gehört (ohnehin alles), was im Himmel und auf Erden ist.“( Paret 2007, S. 174, Sure 10,68).
Bei der ersten Stelle handelt es sich Ibn Kaṯīr zufolge sowohl um die Christen, die behaupten, Gott habe einen Sohn, als auch um die mekkanischen Heiden, die an den Engeln als Töchter Gottes glauben(Vgl. Ibn Kaṯīr 1999, Bd. I. S. 396). Zur zweiten Stelle nimmt er aber keine Stellung.
Al-Alūsī versteht beide Verse im gleichen Sinn, und zwar dass damit sowohl die Christen als auch die Heiden gemeint sind (Vgl. Al-Alūsī 1994, Bd. I. 364; Bd. XI. 146). Nach aṭ-Ṭabarī betrifft die erste Stelle die Christen und die zweite die Heiden (Vgl. Aṭ-Ṭabarī 2000, Bd. II. S. 538; Bd. XV. S. 145). In Bezug auf Sure 19, die sich ausführlich mit der Geburtgeschichte Jesu befasst, wendet sich der Koran ebenfalls sehr heftig gegen die fragliche Behauptung (Verse 88-93); Ibn Kaṯīr ist im Gegensatz zu den meisten anderen Exegeten der Meinung, dass neben den Christen auch die Heiden gemeint sind. Daraus lässt sich schließen, dass die Exegeten bezüglich dieser Kategorie (der zweideutigen Stellen) den Titel „Gottes Sohn“ bzw. „Gottes Kind“ weniger in seiner philosophischen Dimension versteht als im Rahmen heidnischer Vorstellung, auf die Muḥammad in Mekka stieß. Unter diesem Gesichtspunkt ist zwar die Ansicht, dass der Koran diese Sohnschaft als genealogische Herkunftsbezeichnung betrachtet, zu berücksichtigen (Vgl. Schumann 1975, S. 30). Jedoch wird außer der genealogischen jede andere Vorstellung der Sohnschaft indirekt dadurch abgewiesen, dass Jesus immer als Sohn Marias im Koran genannt wird, und sich selbst seiner Gemeinde als „ʿAbdu l-Lāh“ (Diener Gottes) vorstellt (Sure 19,31).
2.2. Spricht der Koran über die Lehre der Dreieinigkeit? (Sure 5,73; 4,171)
Die Trinitätslehre, die etwa dreihundert Jahre nach Christus entwickelt wurde, ist das wichtigste Element im christlichen Gottesverständnis. Gemäß dieser Lehre vereinigen sich drei unterschiedliche, getrennte Personen zu einer göttlichen Einheit: Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Es handelt sich folglich um eine Gottheit, die aus drei Personen besteht. Zunächst muss festgestellt werden, dass das Neue Testament zwar triadische Formeln, aber keine Trinitätslehre bietet; die großen christlichen Konfessionen stimmen jedoch in der Annahme dieser Lehre überein (Vgl. Leuze 1994, S. 116; Aziz-us-Samad 1984, S. 21).
Sowie der Koran in Sure 5,72 den Glauben an die Göttlichkeit Jesu zurückweist, werden im nächsten Vers noch diejenigen, die sagen, Gott „ist Dritter von dreien“ als „ungläubig“ betrachtet (Henning 2007, S. 111, Sure 5,73). Dies lehnt der Koran deshalb ab, da „es nur einen Gott gibt“ (Henning 2007, S. 111, Sure 5,73b). Die Kritik steigert sich, wenn am Ende des Verses diese „Ungläubigen“ mit „schmerzhafter Strafe“ am Jüngsten Tag bedroht werden. Nach al-Qurṭubī sind hier die Jacobiten, die Nestorianer und die Malkiten gemeint, die im Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist einen Gott sehen (Vgl. al-Qurṭubī 1985, Bd. VI. S. 249). Die Verbindung zwischen den drei Teilen des Verses zeigt, dass der Koran die kritisierte Lehrein einem Gegensatz zur monotheistischen Gottesvorstellung versteht und dass es sich für ihn beim Nazarenerischen Gottesverständnis nicht um den Glauben an einen dreieinigen Gott, sondern um die Verehrung dreier Götter handelt. Eine andere koranische Stelle vergegenwärtigt diesen Anhaltspunkt, wo die Anforderung an die Christen auftritt: „Sagt nicht ‚Drei‘. Lasst davon ab, dies ist für euch besser. Allah ist nur ein einziger Gott“ (Vgl. Henning 2007, S. 100, Sure 4,171). Al-Qurṭubī stellt zwar fest, „yaqūlūna abb wa-ibn wa-rūḥ al-qudus ilāhun wāḥidun, wa-lā yaqūlūna ṯalāṯat āliha“ (sie sagen: Der Vater, der Sohn und der heilige Geist sind ein Gott, und sagen nicht: drei Götter). Er meint doch, dass dies (was sie nicht ausdrücklich sagen) ein notwendiges Ergebnis ihrer Lehre ist, mit dem sich der Koran hier auseinandersetzt (Vgl. al-Qurṭubī 1985, Bd. VI. 249).
Dass der Koran mit diesen zwei Stellen wirklich die bisher theologisch entwickelte christliche Lehre der Dreieinigkeit widerspiegelt, ist nicht sehr wahrscheinlich. Wie oben ausgeführt worden ist, erzählen die Verse nicht von der Einheit dreier Personen im Wesen Gottes, sondern von drei Göttern, was al-Qurṭubī für eine unbedingte Folge des trinitarischen Denkens hält. Nach ihm ist damit die Trinitätslehre gemeint. Aṭ-Ṭabarī behandelt die zwei genannten Stellen aus einer anderen Perspektive: Er geht von der koranischen Stelle aus, wonach neben Jesus auch Maria als Göttin verehrt wurde: „Und als Gott sprach: Sohn Marias! Warst du es, der zu den Menschen sagte: ‚Nehmt euch neben Gott mich und meine Mutter zu Göttern?‘ Er sagte: Preis sei Dir! Es steht mir nicht zu, etwas zu sagen, wozu ich kein Recht habe“ (Khoury 1987, S. 94, Sure 5,116). Aṭ-Ṭabarī ist demnach der Ansicht, dass mit den drei Göttern der Vater, der Sohn Jesus und die Mutter Maria gemeint sind (Vgl. aṭ-Ṭabarī 2000, Bd. X. S. 482). Die anderen Exegeten berücksichtigen diese zwei verschiedenen Auffassungen: Mit den Versen (5,73; 4,171) können entweder die eine Lehre der Dreieinigkeit, wonach es sich im Endeffekt um drei Götter – den Vater, den Sohn und den heiligen Geist – handelt, oder die andere Lehre, wonach Jesus und seine Mutter als Götter neben Gott verehrt wurden, gemeint sein (Vgl. ar-Rāzī o. J. , Bd. XII. S. 59; Ibn Kaṯīr 1999, Bd. III. S. 158; Al-Alūsī 1994, VI. S. 372.). Bemerkenswert ist, dass zum einen für die Vergöttlichung Mariasʼ gar keine bestimmte christliche Gruppe genannt wird. Zum anderen hat kein Gelehrter eine bestimmte der zwei Auffassungen für überwiegend, außer Ibn Kaṯīr, der die zweite Meinung vertritt und sie als „al-aẓhar“ (deutlich erkennbar) betrachtet (Vgl. Ibn Kaṯīr 1999, Bd. III. S. 158).
Trotz der Meinungsunterschiede und der Uneindeutigkeit der betroffenen Suren bezieht sich die allgemeine islamische Einstellung, die die Trinitätslehre für vollkommen abwegig hält, vor allem und ausdrücklich auf die zwei oben erwähnten Stellen (Sure 5,73; 4,171), wobei erklärt wird, dass das Dogma zum monotheistischen im Koran verankerten Prinzip völlig in Widerspruch steht.
2.3. Jesus Christus wurde „nicht getötet und nicht gekreuzigt“ (Sure 5,157)
Gemäß dem neuen Testament endet die Leidensgeschichte Jesu mit seinem Tod am Kreuz. Die jüdische Führung in Jerusalem bemächtigt sich seiner mit Hilfe eines der Jünger (Judas Iskarioth), und liefert ihn dem römischen Prokurator Pontius Pilatus aus, der gerade in der Stadt weilt. Jesus wird vor dem Synedrium verhört, zu Tode verurteilt und am Ende von den Römern gekreuzigt (Vgl. Mk. 14,1-15,39).
Der Koran bestreitet das Ereignis der Kreuzigung Jesu: Sure 4 erzählt, dass Gott die Juden wegen ihrer Verfehlungen (u. a. wegen des Brechens ihrer Verpflichtung, der Verleugnung seiner Zeichen, der Tötung seiner Propheten und der Verleumdung Marias) verflucht (4, 155-156). Die letzte in diesem Kontext erwähnte Verfehlung ist ihre Behauptung, sie hätten „den Messias Jesus, den Sohn der Maria“ getötet. Der Vers entgegnet „Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so daß sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten)“ (Paret 2007, S. 76, Sure 4,157). Erwähnenswert weist die ganze Passage eine Auseinandersetzung mit den Juden auf. Es geht dem Koran in erster Linie nicht darum, gegen die Christen zu polemisieren, indem er eine ihrer wichtigsten Heilslehren in Zweifel zieht. Er will vielmehr die Verfehlungen der Juden aufzeigen
Der Koran geht nicht darauf ein, ob und wieJesus unter den Juden gelitten hat und streitet ebenfalls nicht die im Neuen Testament berichtete Verfolgung Jesu und seiner Jünger ab. Gerade das Ereignis der Kreuzigung erkennt er selbst an. Nach ihm ist jedoch der am Kreuz Getötete nicht Jesus.
In seiner These, dass der Gekreuzigte nicht Jesus war, bezieht sich der Koran weder auf eine jüdische noch auf eine christliche Konfession. Die Christen glauben an den gekreuzigten Jesus und daran, dass dieser damit die Menschen bzw. die Gläubigen von der Sünde Adams erlöste, was später zu einer Erlösungslehre entwickelt worden ist.
In den Koranexegesen wird der Vers nur im Kontext der Auseinandersetzung mit den Juden behandelt. Diesen werden die Mühe und Absicht, Christus zu töten, vorgeworfen. Die Exegeten sind darüber uneinig, wie die Handlung, dass den Juden ein anderer als Jesus durch Einwirkung Gottes ähnlich erschien, genau ablief. Aṭ-Ṭabarī berichtet von zwei verschiedenen Überlieferungen (Vgl. aṭ-Ṭabarī 2000, Bd. IX. S. 375): Die eine besagt, dass alle Jünger, die mit Jesus waren, den Juden ähnlich wie Jesus erschienen und dass dieser selbst zu dieser Zeit in den Himmel erhoben wurde. Die Juden konnten wegen dieser Vortäuschung den Christus nicht erkennen, hielten einen seiner Jünger fest und kreuzigten ihn. Gemäß einer anderen Überlieferung nach Ibn Miʿqal berichtet aṭ-Ṭabarī, dass die Jünger Jesu das Haus vor der Ankunft der Juden verließen, außer einer, auf den die äußere Erscheinung Jesu übertragen und anstelle dieses von den Juden gekreuzigt wurde. Ausgehend vom zweiten Bericht meint aṭ-Ṭabarī, dass die Christen diese Tatsache nicht wissen sollten, denn die Jünger sahen beim Abendmahl, wie sehr Jesus traurig war und wussten von ihm, dass dies der letzte Abend sei: „fa-lam yastaḥiq al-laḏīna ḥakū ḏālika min ḥawārīhi an yakūnū kaḏabah, iḏ ḥakū mā kāna ḥaqqan ʿindahum fī ẓ-ẓāhir“ (Diejenigen unter den Jüngern, die das erzählten, sollen nicht für Lügner gehalten werden, denn sie erzählen, was sie im Öffentlichen wahrnahmen; Vgl. aṭ-Ṭabarī 2000, Bd. IX. S. 375). Al-Alūsī und aṣ-Ṣābūnī berichten noch eine dritte Überlieferung, der nach einer der Jünger Jesu, dessen Verrat Jesus laut des Neuen Testaments (Vgl. Lk 22,21; Joh 13,21) prophezeite, dem Christus ähnlich gemacht wurde, sodass die Juden ihn anstelle von Jesus kreuzigten (Vgl. Al-Alūsī 1994, Bd. VI. S. 186; aṣ-Ṣābūnī 1999, Bd. I. S. 241; ar-Rāzī o. J., Bd. XI. S. 100. Nach dem Neuen Testament ist der Verräter Judas, der Iskariot (vgl. Lk 2,3; Joh. 13,2.27)). Šalabī stellt fest, dass die genauen islamischen Literaturen keine bestimmte Person nennen, denn Judas, der Iskariot, soll nach dem Kreuzigungsereignis gelebt und seinen Verrat bereut haben (Mt. 27,3-5; Vgl. Šalabī 1998, S. 55).
Der Koran distanziert sich also von der „jüdischen Behauptung“, Jesus gekreuzigt zu haben. Wer und wie dieser eigentlich getötet wurde, wird von den Exegeten verschieden interpretiert. Über das Lebensende Jesu stellt der Koran fest: „Allah hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben. Allah ist mächtig und weise“ (Paret 2007, S. 76, Sure 4,158; vgl. Auch Ders. S. 47, Sure 3,55). Im Blick auf die Frage, ob Jesus mit dem Geist oder mit dem Körper erhoben wurde, tendieren die meisten Kommentare zur Einstellung, dass Jesus, nach dem er gerettet wurde, weiter lebte, bis er ganz normal starb. Erst da wurde seine Seele in den Himmel erhoben. Diese Meinung stützt sich vor allem auf koranischen Stellen, die vom Tode Jesus sprechen (Vor allem werden die Suren 3,55, 5,117 und 19,33 zitiert).
Mohammed Abdel Fadeel Abdel Rahem
Sektion für islamische Studien in Deutsch (SISD)
Al-Azhar Universitä