Koranische Einstellung zu ʿIsa (Jesus) und seiner Botschaft - Exegetischer Überblick (I)

  • | Wednesday, 27 May, 2015

Der Koran bestreitet nicht, dass vor Muḥammad schon Offenbarungen an die Menschen ergangen sind. Es wird verkündet, dass Gott in jedem Volk Propheten auserwählt hat, um die Menschen auf den Pfad der Wahrheit und Rechtschaffenheit zu führen (Vgl. Sure 35,24). Zwar gibt es laut dem Koran Rangunterschiede unter den Propheten (Vgl. Sure 2,253), doch gilt der Glaube eines Muslim nicht als vollkommen, wenn er nicht an die vor Muḥammad existierenden Propheten glaubt: „… und [wir] machen keinen Unterschied zwischen Seinen Gesandten“ (Henning 2007, S. 62, Sure 2,285; vgl. S. 98, Sure 4,150). Das hängt natürlich damit zusammen, dass sich alle Botschaften auf einen Satz einigen: Es gibt nur einen Gott. 
Jesus Christus, seine Wunder, seine Botschaft und seine Anhänger sind an vielen koranischen Stellen thematisiert. Der Muslim soll dem Koran zufolge an ʿĪsā (Jesus) als Gesandten Gottes (aber nicht als Gottes Sohn; vgl. Sure 4,157; 61,6) und an das Inğīl (Evangelium) als heiliges, offenbartes Buch (aber nicht als von den Nachfolgern Jesu niedergeschriebene Schrift; vgl. Sure 5,46; 57,27) glauben. Von ʿĪsā erzählen 15 Suren und über 100 Verse im Koran, wobei er eine höchst bedeutsame Rolle spielt und eine so große Ehre genießt, wie sonst kein anderer Prophet. (Vgl. Abu Layla 1997, S. 4.) Er wird entweder mit seinem Namen ʿĪsā oder mit seiner Eigenschaft als al-Masīḥ (der Messias) erwähnt. Dabei wird u.a. von seiner Geburt erzählt und auf sein Wirken, seine Jüngerschaft und seine Wunder hingewiesen. 
Exkursion 1: Besonders die Suren 3 und 19 berichten ausführlich von der Geburt Jesu und seine Empfängnis durch die Jungfrau Maria. Als Vorgeschichte der Geburt Jesu erwähnt der Koran in Sure 19, die „maryam“ (Maria) heißt, wie die Ehefrau von ʿImrān Gott ihr Kind Maria gelobte, wie Gott Maria in seiner Gnade annahm und sie in Obhut von Zacharias ließ (Sure 3,35-37). Gott sandte Maria seinen Engel Gabriel, um ihr ein Kind als Gnade und Rechtleitung für die Menschheit zu verkünden (Sure 19,17-21). Durch einen göttlichen Schöpfungsakt oder – laut Suren 21,91 und 66,12 – „durch Einhauchen des Geistes“ empfang Maria das Kind Jesus. (Vgl. Khoury 2001, S. 72). Betreffs seiner Wunder ist im Koran von der Krankenheilungen und Totenerweckungen Jesu die Rede, doch ohne die in den Evangelien erzählten Einzelheiten (Sure 3,49; 5,110). Erwähnt wird ebenso die Erschaffung lebender Vögel aus Lehm (Sure 3,49; 5,110) - eine Wundergeschichte, die nicht im Neuen Testament steht. Der Koran berichtet auch dreimal von dem Glauben der Jünger und ihrem Beistand Christus gegenüber (Sure 3,52; 5,111; 61,14). Jesus selbst gilt nach dem Wortlaut des Koran als „Zeichen Gottes“, mit dem Gott den Menschen mitteilen will, dass er ihnen mit Barmherzigkeit begegnet (Sure 19, 21; 21,91)

In diesen Zusammenhängen entspricht die koranische Sprache der neutestamentlichen Darstellung mehr oder weniger. Dagegen erfahren der Tod Jesu und seine Lehren eine eigene, dem Evangelium nicht gemäße Interpretation. Die Anhänger Jesu werden im Koran nicht als Christen genannt, sondern entweder als Naṣarā (Nazarener) – und zwar in Rücksicht auf Nazareth, dem Heimatort Jesu – oder als ahlu l-Kitāb (Schriftbesitzer) bezeichnet, das heißt diejenigen, die heilige Schriften vor Muḥammad hatten; letzter Ausdruck bezieht auch die Juden mit ein. 
Im Prinzip beinhaltet der Koran keine feindliche Haltung gegenüber den Anhängern Jesu bzw. den Christen. Über diese befinden sich in ihm sowohl positive als auch negative Stellen, die die koranische Haltung indes nicht aus dem Rahmen der allgemeinen Anerkennung der früheren Botschaften fallen lassen. Im Folgenden werden nur die wichtigsten koranischen Stellen über das Evangelium und die Dogmen der Naṣārā verfolgt. Anhand der berühmten islamischen Exegesen von u. a. aṭ-Ṭabarī (gest. 923), ar-Rāzī (gest. 1209), az-Zamaḫšarī (gest. 1143), al-Qurṭubī (gest. 1273), Ibn Kaṯīr (gest. 1373), und al-Alūsī (gest. 1854) und der Kommentaren von u. a. Ibn Ḥazm (gest. 1064) und Abū Zahra (gest. 1916) werden die Bedeutung und die Interpretation dieser Stellen dargelegt. Das Ziel ist dabei Antworte auf die Fragen zu suchen, ob der Koran das Evangelium anerkennt, welche Dogmen der Koran kritisiert, und ob diese den heutigen christlich verankerten Lehren entsprechen.

1. Erkennt der Koran das Evangelium an?

Wie oben erwähnt, erkennt der Koran das Evangelium als heilige von Gott herabgesandte Schrift an. Das hängt mit der Anerkennung aller Muhammad vorangegangener Propheten zusammen. In diesem Zusammenhang ist vor allem auffällig, dass das Evangelium nach der koranischen Beurteilung ursprünglich eine göttliche Offenbarung ist, die später im Laufe der Zeit mehr oder weniger, bewusst oder unbewusst verfälscht wurde oder verloren gegangen ist. An zwei Stellen im Koran kommt der Satz „wa-ātaynahu l-inğīl“ (und Wir haben ihm [Jesus] das Evangelium gegeben; Sure 5,46 und 57,27) vor. Der erste Vers (5,45) tritt in einem großen Kontext (Sure 5,41-50) auf, wo grob die Tora und das Evangelium als Rechtleitung und Licht für die Menschen beschrieben werden und die Mahnung an die Juden und Nazarener geäußert wird, dass sie am göttlichen Urteil darin festhalten sollen. Für diesen Kontext wird als Offenbarungsanlass berichtet, dass ein jüdischer Mann und eine jüdische Frau Unzucht begingen und dann von den Juden zu Muḥammad gebracht wurden, um bei ihm eine andere bzw. leichtere Strafe zu suchen als die jüdische Strafe der Steinigung (Vgl. an-Naysābūrī 1968, S. 131; aṭ-Ṭabarī 2000, Bd. X. S. 339). Demzufolge sprechen die Verse vor allem die Juden an, dass sie sich eher an den von Gott in der Tora offenbarten Gesetzen orientieren müssen. Dann erzählen die Verse, dass Jesus Christus das Evangelium mit Rechtleitung und Licht zur Bestätigung dessen, was vor ihm in der Tora war, gegeben worden ist. Das heißt, dass das Evangelium, wie vorher die Tora, von Gott seinem Gesandten offenbart wurde, was im nächsten Vers explizit mit dem Verb anzala (herabsandte) zum Ausdruck gebracht wird: „und die Leute des Evangelium sollen nach dem urteilen, was Gott darin hinabgesandt hat“ (Henning 2007, S. 108, Sure 5,47). Die zweite Stelle (Sure 57,27) erwähnt nahezu das Gleiche. Nur wird nicht Mose, sondern Noah und Abraham als Vorgänger Jesu genannt, den Gott ihren Spuren folgen ließ. 
    Der Koran erkennt das Evangelium daher als eine der heiligen Schriften Gottes an und rühmt es auch. Die vorhandenen kanonischen Evangelien weisen jedoch keine Offenbarung auf, da sie laut christlicher Zeugnisse von Menschen verfasst wurden. Gemäß dem christlichen Dogma offenbarte Gott sich selbst im Leib Christi und brauchte deshalb keine Worte herabzusenden. Obwohl der Koran ausdrücklich an keiner Stelle über eine Verfälschung oder Entstellung im Evangelium spricht, kommen die Theologen zu dem Schluss, dass ein großer Teil der göttlichen Offenbarung an Jesus nicht mehr existiert.
Exkusion 2: In den Versen, in denen der Koran über die Entstellung spricht, sind nach dem großen Kontext besonders die Juden betroffen. Nur an einer Stelle ist von den Christen die Rede (5, 14-15), wo die Verse nicht auf eine Entstellung oder eine Verfälschung, aber auf eine Verbergung hinweisen: „…vieles, was ihr von der Schrift verbargt…“ (Henning 2007, S. 104, Sure 5,15). In diesem Vers werden die Schriftbesitzer (Juden und Christen) im Allgemeinen angesprochen. Einige Exegeten interpretieren, dass die Christen deswegen mit einbegriffen sind, weil sie die Verkündung Muḥammads im Evangelium verbargen. (Vgl. al-Alūsī 1994, Bd. VI. S. 268; az-Zamaḫšarī 1998, Bd. II. S. 218)

Die muslimischen Gelehrten gehen davon aus, dass der Koran das Evangelium ursprünglich als Gottes Offenbarung betrachtet und viele Glaubenslehren des Neuen Testaments oder der christlichen Tradition nicht anerkennt: Nach Ibn Ḥazm ist der größte Teil des offenbarten Evangeliums in der Zeit vor Konstantin dem Großen (306 - 337) verloren gegangen (Vgl. Ibn Ḥazm 1996, Bd. II. 17). Die konkreten Gründe dafür führt Abū Zahra auf die Verfolgungen und Unterdrückungen zurück, worunter die Christen unter den Gewaltherrschaften vor allem unter dem römischen Kaiser  Nero (54 – 69) litten, und die erst 391 mit der Anerkennung der christlichen Kirche als einziger Staatsreligion endeten (Vgl. Abū Zahra 1961, S. 31; al-Fāḍilī 1986, S. 142f). Demgegenüber meint al-Hamaḏānī (gest. 1025), dass das „authentische“ Evangelium Gottes in dieser Periode bewusst durch die Christen selbst, die zu den römischen Gewaltherrschern Beziehung hatten, verfälscht wurde (Al-Hamaḏānī 1966, I. 152f.). Diesen zitierten Theologen fehlen aber die genauen geschichtlichen Beweise für ihre Meinungen und bieten keine Angaben für das fragliche Evangelium, das Gott Jesus offenbarte. Sie stellen nicht ausdrücklich fest, ob dieses schon zur Zeit Jesu oder später niedergeschrieben worden ist. Parallel dazu fehlt auch bei der christlichen Literatur eine ununterbrochene Überlieferungskette für die vier Evangelien. Riḍā stützt sich seinerseits auf die Überlieferung, in der Muḥammad sagt, „lā tuṣaddiqū ahla l-kitāb wa-lā tukaḏḏibūhum“ (Glaubt nicht den Schriftbesitzern und haltet sie auch nicht für Lügner!), um zu beweisen, dass es in der Bibel im Allgemeinen noch viele unverfälschte Stellen gibt, die aber von den gefälschten nicht gründlich unterschieden werden können. Ihm zufolge befinden sich im Evangelium doch klare Stellen, von deren Glaubenwürdigkeit die Muslime ausgehen sollen. Die Bergpredigt Jesu in Mt 5-7 führt er dazu als Beispiel an (Riḍā 1367 H., S. 4).

Mohammed Abdel Fadeel Abdel Rahem
Sektion für islamische Studien in Deutsch (SISD) 
Al-Azhar Universitä

 

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